Bindungstrauma und sexuelles Begehren
Frühkindliche Traumata führen automatisch zu einer veränderten Wahrnehmung der Sexualität und spiegeln oft Muster aus der Kindheit wider.
Aktualisiert am Oktober 21, 2023
„Die Wunde ist der Ort, an dem Licht in dich eindringt“, ist eine Zeile aus einem Rumi-Zitat, welches mir besonders gut gefällt in Anbetracht dieses neuen Essays. Rumi will damit zum Ausdruck bringen, das Leid und Schmerz zu spirituellem Wachstum und Erleuchtung gehören, um zu einem besseren Verständnis von uns selbst und der Welt um uns herum zu gelangen. Emotionale Wunden wie Traumen werden wegweisend und tauchen ab und an durch diverse Trigger wieder auf, um sich dem Schmerz vor Augen zu führen, ihn anzuerkennen, zu reflektieren und Frieden zu schließen, wie bei meiner jüngsten Begegnung. Ich traf einen Mann, mit dem ich schon über einen längeren Zeitraum in Kontakt war, bevor wir uns überhaupt live getroffen haben. Bei dieser Begegnung sind mir auf einmal alle liebesentzogenen Gefühle vor Augen geführt wurden. Damit meine ich Gefühle in Bezug auf Nähe, Wertschätzung, Akzeptanz und Geborgenheit. Und obwohl dieser Mann ein unbeschriebenes Blatt ist, hat er allein durch seine Präsenz etwas in mir getriggert, sodass ich sofort in einen unbeweglichen, fast versteinerten Zustand geraten bin. Nach Jahren der Selbsterkundung und dem heilenden Prozess meines eigenen Bindungstraumas wurde ich bei diesem Aufeinandertreffen wieder zurückgeholt an einen Ort, von dem ich dachte, ihn längst hinter mir gelassen zu haben. Aber nein, der Prozess geht immer weiter und ich bin ja auch diejenige, die bestimmte Männer attraktiv findet und andere eben nicht. Das war nicht immer so, aber das Dilemma frühkindlicher Erfahrungen in Zusammenhang mit falschen Bindungsvorstellungen ist stets allgegenwärtig.
Was allerdings auch interessant ist, ist mein persönlicher Konflikt in Bezug auf Sexualität. Obwohl dieser Mann eine Art Rückzug in mir hervorgerufen hat, innerlich, emotional ganz klar, habe ich mich sexuell stark zu ihm hingezogen gefühlt. Meine submissive Seite wurde erweckt und hatte bereits Vorstellungen, die sich von dem eigentlichen Geschehen, dem Drink und Gespräch verabschiedet haben. Eine ambivalente Haltung, die gar nicht so einfach zu bändigen ist. Während mein Verstand mir zu verstehen gibt, Hau ab und zwar so schnell wie möglich, will mein Körper etwas ganz anderes. Aber wie kommt es zu diesen Reaktionen? Warum triggern manche Menschen diese tief verborgenen Emotionen und wie geht man schließlich damit um?
Beziehungsmuster aus der Kindheit
Für jene, die sich in ungesunden Beziehungen wiederfinden, ob gewollt oder nicht, werden ungesunde Beziehungen vorgelebt bekommen haben. Diese können unterschiedliche Traumata hervorrufen und sich dementsprechend auf die eigene Beziehungs(un)fähigkeit auswirken. Wenn man beispielsweise als Kind nicht genug Nähe und Berührung durch die Eltern erfahren hat, könnte das dazu führen, dass man sich in Freundschaften, in denen Umarmungen und Streicheleinheiten eine große Rolle spielen, unwohl fühlt. Psychologen erklären, dass eine Bindung bereits vor der Geburt entsteht. Das bedeutet, dass im Mutterleib zukunftsweise Emotionen entstehen, die sich auf Beziehungen auswirken.
Ich habe ein interessantes Video von der Psychologin und Autorin Dami Charf über die `Auswirkung von Trauma auf Sexualität und Begehren‘ gesehen, das mich hellhörig gemacht hat. Sie sagte darin, ich zitiere:
„Wenn wir als ganz kleine Kinder nicht gewollt waren, gleich im Brutkasten gelandet sind und massive beängstigende Erfahrungen gemacht haben, weil wir so viel alleine waren, dann zieht sich unsere Lebensenergie bis zurück in die Knochen. Und das Verrückte und sehr Traurige ist, dass wir dann Begehren und Expansion mit Vernichtung assoziieren.“
Was im Prinzip meint, dass, wenn wir uns zu früh mit der Abnabelung und ich nenn es mal negativen Folgen von Offenheit und Verletzlichkeit auseinandersetzen mussten, würden wir diese in engen Zusammenhang mit Auslöschung definieren. Da ich adoptiert bin und über dieses Thema schon viel recherchiert und auch selbst therapiert habe, erkenne ich den roten Faden, der sich unwillkürlich durch die Lebensjahre zieht. Oder man könnte es auch als gewaltsame Abtrennung der Nabelschnur visuell vor Augen führen. Das innere Kind ist stets präsent und versucht diese Wunden aufrechtzuerhalten, um zu verinnerlichen, dass dies wahre Liebe bedeutet mit dem zwanghaften Bedürfnis nach unbefriedigenden, lieblosen Beziehungen.
Bindungstheorie und Sexualität
Frühkindliche Traumata führen automatisch zu einer veränderten Wahrnehmung der Sexualität und spiegeln oft Muster aus der Kindheit wider. Sie werden mit dem Gefühl gekoppelt, was uns unser Vater oder Mutter geben konnte oder eben auch nicht. Das wiederum hat zur Folge, dass wir uns zu Menschen, die diese Gefühle widerspiegeln, sexuell hingezogen fühlen. Es entsteht eine Art Hass- Liebesbeziehung, die mit dem Fehlen der elterlichen Anerkennung stark verknüpft ist und in der der Verstand eigentlich weiß, dass diese Beziehung nicht funktionieren wird, aber dennoch nach Aufmerksamkeit lechzt.
Sex ist der Schlüssel zur Wiedergutmachung emotionaler und psychischer Defizite in Bezug auf Sicherheit, Vertrauen, Bindung und Liebe. Wenn diese Bedürfnisse in der Kindheit nicht ausreichend befriedigt wurden, wird für manche Sexualität verwirrend sein, sodass sie sexuelle Handlungen vermeiden oder auch promiskuitiv ausleben. Ich erinnere mich an eine Unterhaltung mit meiner Freundin, in der wir unsere verschiedenen Beziehungsmuster deutlich erklären konnten. Während sie wohlbehütet und in einem sicherheitsorientierten Umfeld aufgewachsen ist, konnte ich machen, was ich wollte. Ich hatte meine eigene Wohnung im Haus, hab Leute zu mir nach Hause eingeladen und war ständig auf irgendwelchen Partys bis zum Morgengrauen. Wörter wie Hausarrest oder Schlafenszeiten kannte ich nicht, was dazu führte, dass ich nun im Erwachsenenalter mit Fremden schlafen kann, ohne irgendeine nachträgliche Verbindung aufzubauen, während sie genauer hinschaut, bevor sie mit jemanden intim wird.
Bewusste Entscheidungen treffen für das eigene Wohlbefinden
Das Thema zu Bindungstrauma ist hochkomplex und enthält viele Komponenten, die ich bisher noch nicht angesprochen habe, wie Freuds Ödipuskomplex oder das weibliche Pendant von Jung mit dem Elektrakomplex. Auch die vier verschiedenen Bindungstypen sind nicht irrelevant. Vielleicht gehe ich darauf in einem anderen Essay ein.
Mit diesem kurzen Auszug wollte ich vor allem meine eigene neuste Erfahrung reflektieren, die mich wahrlich erschüttert hat. Mein inneres Kind war so nah wie noch nie und ich wollte es loswerden, gleichzeitig beruhigen, so wie ich es viele Jahre getan habe. Ich dachte, ich sei angekommen, ich steh über den Dingen und lasse mich nur noch auf gesunde Beziehungen ein, was auch immer das heißen mag. Denn ich weiß, dass mein sexueller Ausdruck, die submissive Komponente, in einer Beziehung auf Augenhöhe möglich ist. Ich sehe es als Portal, um meine verwundeten Teile mit den offenbarten, geheilten Teilen zu verbinden. Ich sehe es außerdem als Herausforderung, sich diesen Begegnungen zu stellen. Und dabei geht es nicht nur um die Person, sondern darum, mich mit meinen inneren Dämonen auseinanderzusetzen; bewusst ja oder nein zu sagen, die Person aus einer anderen Perspektive kennenzulernen, Stück für Stück, ohne geteilte Intimität, ohne Mutmaßungen, sondern einzig und allein, um Frieden zu schließen, mit dem Vater und dem inneren Kind mit den vernachlässigten Gefühlen. Aber alles nur bis zu einem gewissen Grad, denn vorrangig geht es um die eigene Heilung, bei der man sich ruhig eingestehen kann, dass gewisse Menschen einfach nie passen werden.