Essays

Über Polyamorie

Polyamorie ist kein Zustand, sondern Teil einer Identität, die sich von monogamen Beziehungskonzepten distanziert.

Von Anne Lomberg am März 22, 2024 -
Aktualisiert am Juni 8, 2024

Auch auf Englisch verfügbar
About Polyamory

Polyamorie ist ein Thema, mit dem ich mich schon des öfteren auseinandergesetzt habe und immer wieder neu bewerte. Es gehört zu jenen Beziehungskonzepten, die im Gegensatz zur Polygamie eine gewisse Reife benötigen. Eine Reife, mehrere Beziehungen auf Augenhöhe zu führen, empathisch zu sein, offen über Wünsche und Ängste zu kommunizieren und vor allem 100 % transparent zu sein. Polyamorie ist kein Zustand, sondern Teil einer Identität, die sich von monogamen Beziehungskonzepten distanziert. Die Überzeugung, dass eine Person nicht alle Bedürfnisse befriedigen kann und auch nicht sollte, bringt eine gewisse Freiheit mit sich und nimmt den Druck in Beziehungen raus, aber sind wirklich alle polyamoren Menschen in der Lage, ihre Liebe gleich aufzuteilen oder nutzen sie das Label einfach nur als Freibrief für Sex?

Ich bin, was das betrifft, gespaltener Meinung, weil ich besonders auf Dating Apps das Gefühl habe, das zumindest die Kategorie Nicht-Monogamie nur als Mittel zum Zweck verwendet wird: nämlich, sich nicht festlegen zu wollen. Denn seien wir mal ehrlich, nicht viele Menschen haben sich selbst so weit reflektiert, dass sie in den offenen und manchmal brutalen Austausch mit ihren Partnern gehen können. Denn dazu benötigt es Mut, empfindsam zu sein, sich selbst verletzlich zu machen und diese verletzliche Seite nicht nur gegenüber einem, nein, sondern mehreren Partnern aufrichtig zu präsentieren. Und wie viele (ich setz das jetzt mal absichtlich in Anführungszeichen) „polyamore Menschen“ haben schon die Energie, allen gelebten Beziehungen gleich stark gerecht zu werden, ohne dass Eifersucht oder ein Gefühl von Vernachlässigung zur Sprache kommt? Denn eins ist sicher, egal ob monogame oder polyamore Beziehungen, sie alle benötigen 100 % Aufmerksamkeit.

Liebe ist nicht exklusiv

Besitz und Teilen sind beides Begriffe, die ich befremdlich finde. Besitz, weil jeder Mensch sein eigenes Individuum ist und niemandem gehört. Teilen, weil es den Menschen als Objekt reduziert. Aus diesem Grund unterstütze ich die polyamoren Ansätze, das Liebe nicht exklusiv sein kann. Denn Liebe ist grenzenlos, sie ist nicht einfach fertig, wenn wir den Traummann oder die Traumfrau treffen, sie entwickelt sich stets weiter mit all den Menschen, die wir in unser Herz lassen. Eine Beziehung bedeutet, dass wir daran teilhaben, genauso so sehr, wie wir jemanden erlauben, daran teilzuhaben, und das hat nicht immer was mit dem rein sexuellen Aspekt zu tun. Vielmehr geht es darum, eine Bindung aufzubauen und füreinander dazu sein. Der Unterschied zwischen einer monogamen zu einer polyamorösen Beziehung besteht also nur darin, dass man statt mit einer Person mit mehreren Personen zusammen ist und genauso viel Wert auf eine langfristige, vertrauensvolle und transparente Beziehung legt.

Zu Beginn habe ich bereits davon gesprochen, dass eine Person unmöglich alle Bedürfnisse befriedigen kann und auch nicht sollte. Was wäre, wenn wir diesen Ansatz anstatt auf mehrere Personen auf uns selbst anwenden? Damit meine ich, dass viele Bedürfnisse selbst befriedigt werden können, ohne dass es eine andere Person überhaupt braucht. Versteh mich nicht falsch, aber manchmal frage ich mich wirklich, ob die Eigenliebe nicht mehr als Hauptquelle genutzt werden sollte, bevor wir uns immer von anderen abhängig machen. Wenn es eine Kategorie gebe, würde ich mich wahrscheinlich als „Solo-Aufgeschlossen“ bezeichnen. Ich liebe es, allein zu sein, aber könnte mir auch eine Partnerschaft vorstellen, die unabhängig von irgendwelchen Labels und Besitzansprüchen ist, die sich stets weiterentwickelt, sexuell und geistig inspirierend ist und ein Leben lang hält. Dafür brauche ich aber nicht zwingend eine traditionelle Partnerschaft, genauso wenig wie mehre Partner an meiner Seite.

Sexueller und emotionaler Liberalismus

Der Begriff Polyamorie ist in den 90er-Jahren in den USA im queer-feministischen Umfeld entstanden und steht für „mehrere“ und „Liebe“. Ein Konzept, das sich in dieser Welt definitiv einen ehrenhaften Platz verdient hat und weniger kritisch beäugt werden sollte, denn die meisten polyamoren Menschen, die ich kenne, sind sehr reflektiert, offen, ehrlich und stellen konkrete Fragen, um Problemen auf den Grund zu gehen. Sie scheuen sich nicht vor dem Aussprechen von Gefühlen und Gedanken oder stigmatisieren sexuelle Neigungen. Sie wollen Beziehungen aufrichtig leben und stellen ihre Partner oder ihre Partnerinnen in den Fokus, auch wenn das bedeutet, das sie vielleicht manche Bedürfnisse nicht befriedigen können oder wollen. Bei traditionellen monogamen Beziehungen läuft man häufig Gefahr, dass sexuelle Neigungen, die der Partner oder die Partnerin nicht teilt, heimlich ausgelebt werden und dadurch das ganze Konstrukt früher oder später scheitert.

Ich würde mir nur wünschen, dass Menschen, die sich als polyamor bezeichnen, wissen, was das überhaupt bedeutet. Denn leider verwechseln viele emotionale Verantwortung mit sexueller Freiheit. Ich bin nicht polyamor, wenn ich nach Lust und Laune herumvögele. Ich bin polyamor, wenn ich in der Lage bin, mehrere Personen gleichzeitig zu lieben und diesen Personen eine gewisse Aufmerksamkeit zu schenken, die es benötigt, um diese Verbindungen gleichmäßig am Laufen zu halten. Polyamoröse Beziehungen sind nicht einfach, jeder sollte sich dessen bewusst sein, denn wenn eine monogame Beziehung schon viel abverlangt, wieso sollte eine Polyamore dann einfacher sein? Letztendlich glaube ich, dass monogam genauso gut funktionieren kann wie polyamor, wenn wir offener und ehrlicher mit uns selbst und unseren Partnern umgehen, wenn wir uns von dem Gedanken lösen, dass es einen anderen Menschen zum Glücklichsein benötigt, sondern unser Glück erst mal in uns selbst finden und den oder die anderen Person/en als Geschenk betrachten; jemanden, den wir für eine Zeit oder sogar vielleicht für immer begleiten dürfen, genauso wie jemanden, den wir in unser Leben einführen und daran teilhaben lassen. Beziehungen sind nicht selbstverständlich, Beziehungen sind überall. Wir finden sie in Freundeskreisen, in der Familie, im Arbeitsumfeld, in Tieren, denen wir uns annehmen oder ein Zuhause geben, in sexuellen Begegnungen, in Liebesaffären, in Partnerschaften, in Lieblingsbars oder Cafés, in unseren Nachbarn. All diese Connections existieren und benötigen manchmal mehr oder weniger Aufmerksamkeit. Ich glaube, wenn wir es im Großen und Ganzen betrachten, hat es was mit Wertschätzung zu tun (ohne den Charakter der Exklusivität zu involvieren), dessen Bedeutung wir uns bewusst machen sollten, um dann ganz klar dem polyamorösen Konzept offen gegenüberzustehen.

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