Essays

Lust am Schmerz

Schmerz verinnerlicht das Hier und Jetzt, sodass andere Probleme nebensächlich werden. Man könnte es als Art Meditation verstehen, um den Körper mit dem Geist auf einer erweiterten Ebene zu begegnen.

Von Anne Lomberg am Dezember 5, 2023

Auch auf Englisch verfügbar
Pleasure of Pain

Viele Menschen entdecken im Laufe ihres Lebens gewisse sexuelle Neigungen, die sich, sagen wir mal von der Mainstream-Erfahrung abheben. Diese Neigungen werden meist durch Fantasien, Geschichten, visuelle Reize oder auch bestimmte Begegnungen entfesselt, sodass die Neugier, eine solche Erfahrung zu erleben, immer größer wird. BDSM gehört zu der wohl bekanntesten Sex-Praktik, die faszinierende und zugleich abschreckende Komponenten aufweist, zumindest wenn man merkt, dass man sich auf diesem Terrain besonders wohlfühlt und nicht weiß, wie man spezielle Vorlieben in den Alltag integrieren kann. Denn BDSM-Anhänger werden zum Teil immer noch stark stigmatisiert, wenn es um die Lustfindung in masochistischen und sadistischen Spielarten geht. Vorurteile wie: „Die sind doch alle traumatisiert, sonst würden sie sich nicht schlagen lassen oder Lust dabei empfinden, wenn sie jemanden quälen“, sind meiner Meinung nach nur Ausreden, um sich nicht tiefergehend mit der Materie befassen zu müssen. Denn eins steht fest, psychische und / oder körperliche Schmerzen können wahre Lustbringer, ja sogar Steigerer sein und das Ausleben als selbstgewählte/r Unterwürfige/r enorme Freiheitsgefühle auslösen.

In diesem Artikel möchte ich mich eher auf die Rolle der Unterwürfigen / Sub beziehen, weil sie oder auch er diejenigen sind, die die Lustschmerzen am eigenen Körper wahrnehmen und genießen, während der Dom oder die Domina sich am Zufügen des Schmerzes erfreut. 

Trauma und Schmerz

Die Lust am Schmerz kann einer traumatischen Historie zugrunde liegen, ist aber keine Grundvoraussetzung. Sehr früh ist die psychosexuelle Entwicklung durch Ereignisse in der Kindheit voll im Gange, auch wenn wir uns an nichts erinnern können. Diese Ereignisse müssen nicht immer mit sexuellem Missbrauch einhergehen, sondern können psychologische Trigger sein, wie eine Mutter oder Vaterfigur, die sehr dominant, abwesend, unterkühlt, vielleicht ablehnend war. Aufgrund dieser schmerzhaften Erfahrungen, die unbewusst oder bewusst nachwirken, gehen wir auf eine Reise, einer nennen wir es Identitätsfindung, um unsere Persönlichkeit zu analysieren und weiterzuentwickeln. BDSM bietet hier einen idealen spielerischen Rahmen, um die Geschehnisse, die mit einer traumatischen Erfahrung einhergehen, zu rekonstruieren, nämlich frühere Traumata zu bewältigen, indem Handlungen unter kontrollierten und sicheren Bedingungen neu durchlebt werden. Der Schmerz, egal ob körperlicher oder psychischer Natur ist demzufolge ein Katalysator, der perfekt eingesetzt wird, um sich dem Trauma zu stellen und zu lernen, damit zu leben, anstatt zu ignorieren.

Was die Rolle der Sub betrifft, denken wir oft, dass sie den passiven Part übernimmt und all die Schmerzen und Erniedrigungen auf sich nimmt, dabei ist sie diejenige, die kontrolliert, welche Dinge während den Sessions passieren und welche nicht. Ein Ermächtigungsgefühl, das eine unglaublich heilende Wirkung haben kann, wenn sie oder er sich den traumatischen Erfahrungen bewusst ist und dadurch ein Ventil entdeckt hat, in einem spielerischen Rahmen damit umzugehen. Aber Vorsicht, denn für manche sind die traumatischen Erlebnisse eventuell zu stark, sodass Schmerzerfahrungen auch das Gegenteil bewirken können, anstatt Freiheit und Lust kommt dann ein Gefühl der Leere und Lieblosigkeit hinzu, die das Trauma als solches wieder reaktiviert. In einem geschützten Rahmen werden Grenzen respektiert und Vertrauen wiederhergestellt, was besonders wichtig ist für Menschen, die eine traumatische Erfahrung gemacht haben. Der Schmerz hilft dabei, besser zu spüren oder wieder zum Spüren zu kommen.

Schmerz und Lust sind neurologisch miteinander verbunden

Im Gehirn gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Lust und Schmerz. Hirnforscher haben herausgefunden, das Schmerzen auch Lustzentren aktivieren. Endorphine und Dopamine werden ausgeschüttet, was zu einer Art Rauschzustand führt. Endorphine sind übrigens die gleichen Hormone, die auch beim Sex ausgeschüttet werden. Beide Empfindungen, sowohl Schmerz als auch Lust aktivieren das Belohnungssystem, auch wenn sie sich total unterschiedlich anfühlen, unterscheiden sie sich aus neurologischer Sicht nur geringfügig voneinander.

Abgesehen von den wissenschaftlichen Fakten gibt es viele weitere Gründe, um Schmerz als Ventil und Lust-Tool zu nutzen. Einige davon hab ich bereits genannt, aber ein weiterer großer Vorteil zeigt sich in der Ablenkung von psychischen Belastungen wie Stress. Der Schmerz verinnerlicht das Hier und Jetzt, sodass andere Probleme nebensächlich werden. Man könnte es als Art Meditation verstehen, um den Körper mit dem Geist auf einer erweiterten Ebene zu begegnen. Es ist auch keine Seltenheit, dass häufig erfolgreiche Menschen, die besonders viel Druck spüren, gern in die unterwürfige Rolle schlüpfen, um einmal in ihrem Leben die Kontrolle abzugeben. Einige BDSM-Praktizierende erwähnen, dass die Auseinandersetzung mit Schmerz ihnen hilft, in anderen Bereichen zu entspannen.

Schmerz in Beziehungen etablieren

Offenheit und Kommunikation sind das A und O für eine befriedigende Sexualität in Beziehungen. Schweigen hingegen fördert Lügen, Unsicherheiten und Distanz. Deswegen ist es in jeder Beziehung so wichtig, seine sexuellen Neigungen mit dem Partner zu besprechen, egal ob es ich dabei um BDSM-Praktiken handelt oder nicht. Da ein Fetisch immer von der Norm abweicht und gesellschaftlich stigmatisiert wird, ist es natürlich nicht ganz so einfach total offen damit umzugehen. Dafür gibt es mittlerweile viele BDSM-Foren, Veranstaltungen und sogar Dating-Apps, um diese Lücke zu füllen und gesellschaftsfähig zu machen.

Es ist ja auch nicht so, dass wenn man sich gewisse Kicks wünscht, sofort in eine BDSM-Rolle schlüpft. Wer Lust auf Fesselspiele und Kerzenwachs hat, ist nicht unbedingt darauf aus, diese Praktik permanent auszuleben. Es geht darum, neugierig zu bleiben, sich allein und mit dem Partner weiterzuentwickeln, ihn nicht zu verurteilen aufgrund bestimmter sexueller Neigungen, sondern offenzubleiben und zuzuhören. Falls Schmerzen gewünscht sind, ist es wichtig, dies in Einvernehmlichkeit zu tun. Das bedeutet, Grenzen zu setzen, ein Safeword zu benennen und klare Absprachen einzuhalten. Dann kann diese gemeinsame Erfahrung wunderbar erfüllend sein und das Band zwischen Partnern zusätzlich verstärken.

Wer das Bedürfnis hat, Schmerzen in seinen Sexpraktiken als Lust-Tool einzusetzen, ist keineswegs unnormal, ganz im Gegenteil. Wenn wir eins gelernt haben, dann, dass Schmerzen durchaus ihre Berechtigung haben und zu einem erfüllteren Dasein führen können, in welchem Ausmaß, das ist wiederum von Individuum zu Individuum unterschiedlich.

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